Auch die Albatros, Silvios Jacht, die Jose hierher mitgenommen hatte, lag stumm am Kai. Der alte Silvio war irgendwo in der Barackensiedlung der Arbeiter, auf Besuch bei Bekannten. Einer wie er konnte es sich leisten, nach Baltra zu segeln, um jemanden zu besuchen. Er hatte zu viel Land und zu viel Geld, der alte Silvio, aber er war in Ordnung. Er hatte Jose verstanden.
Die warme Luft der Inseln war voll von Nervositat. Manche von den deutschen Siedlern auf den Inseln waren bereits ausgewiesen worden: plotzlich zu Feinden geworden, als die Amerikaner in den Krieg eingetreten waren. Denn Ecuador und die Inseln standen aufseiten der Amerikaner, naturlich. Manche andere, Englander, Franzosen, Amerikaner, hatten von zu Hause den Befehl erhalten, zuruckzukehren und Teil des Krieges zu werden. Der Rest wartete: auf die Nacht, auf den nachsten, den ubernachsten Tag – im Herzen keine Ruhe, auf den Lippen schon Abschiedsworte.
Und Jose wartete mit ihnen. Darauf, dass etwas geschah. In den Nachten traumte er, und im Traum segelte er ganz allein nach Europa, um zu kampfen wie ein Mann. Gegen die Deutschen und fur die Freiheit. Ein Schiff, dachte er, musste man besitzen – eines wie diese kleine honiggelbe Jacht, die am Anleger lag. Ihr lackiertes Holz glanzte in der Sonne wie der dunkle, flussige Honig aus frischen Bienenwaben.
»Jose?«
Er fuhr herum. Hinter ihm stand sein Vater. »Mein Junge«, sagte er. »Ich habe dich gesucht. Sage mir, siehst du den blauen Schatten dort hinten, fast hinter dem Horizont? Ein Stuck rechts von Santiago?«
Naturlich sah Jose den blauen Schatten. Die Isla Maldita. Die verfluchte Insel. Ein Ort der Vergangenheit, der nichts mit dem Krieg zu tun hatte, der Jose rief.
»Vielleicht ist diese Insel schuld daran, dass ich keine Helden in meiner Familie haben will«, sagte Joses Vater. »Dein Urgro?vater, wei?t du, mein Gro?vater – er wollte ein Held sein wie du. Es gab keinen Krieg, in dem er kampfen konnte. Keinen Feind. Da hat er gegen den gro?ten Feind gekampft, den der Mensch besitzt: das Meer. Er … ist zur Isla Maldita gesegelt. Ganz allein, in seinem winzigen Boot. Es gab schon immer eine Menge Geschichten uber die Insel. Jeder, der daran vorubersegelte, brachte neue Geschichten mit. Manche wollten die Schreie von Menschen gehort haben, andere berichteten von Feuerschein. Fruher haben Piraten dort gehaust, so viel ist sicher.«
»Fruher haben uberall Piraten gehaust«, sagte Jose. »Auf allen Inseln. Und?«
»Mein Gro?vater erklarte mir, er kame bald zuruck und er wurde Schatze mitbringen, glei?ende, glitzernde Diamanten, gro? wie Melonen. Irgendwie war er an eine alte Karte der Insel gekommen, und er war uberzeugt, sie stammte aus der Zeit der Piraten und darauf ware ein Schatz eingezeichnet. Ein altes Versteck, das niemand je gefunden hatte, weil niemand je gewagt hatte zu suchen. Ich lauschte ihm mit gro?en Augen. Ich war gerade sieben Jahre alt. Ich liebte meinen Gro?vater sehr. Doch die Augen meiner Mutter und meiner Gro?mutter waren rot geweint, als er ging. Er ist trotzdem gegangen.«
Jose versuchte sich seine Urgro?mutter als junge Frau mit rot geweinten Augen vorzustellen, aber das war schwierig. Fur ihn war sie immer die Abuelita gewesen, das Gro?mutterchen, immer alt: voller Falten, voller Geschichten. Nur von der Reise ihres Mannes, des Abuelitos, hatte sie nie erzahlt.
»Er ist … nicht zuruckgekommen«, sagte Jose.
Sein Vater schuttelte den Kopf. »Nein. Er ist nicht zuruckgekommen. Alles, was ich von meinem Gro?vater habe, ist eine Kopie der Karte. Ich habe sie als kleiner Junge abgezeichnet, ehe er fortging. Ich trage sie bei mir wie einen Talisman. Ein dummes Stuck Papier. Verstehst du jetzt? Verstehst du, dass ich nicht will, dass du ein Held wirst? Helden sterben alle jung.«
Er griff in die Tasche seiner Arbeitsjacke und zog ein zusammengefaltetes Stuck Papier heraus, das er Jose hinhielt. »Die Karte«, sagte er. »Mein Talisman. Nimm sie mit, wenn du morgen mit Silvio nach Isabela zuruckfahrst.«
Jose nahm das Stuck Papier. Es fuhlte sich alt und bruchig an in seinen Handen. »Warum?«
»Damit du daran denkst, dass manche Helden nicht zuruckkommen. Warte noch ein Weilchen damit, ein Held zu werden. Versprich es mir.«
»Ich verspreche es«, sagte Jose und steckte das Stuck Papier ein, ohne es anzusehen. Ohne seinen Vater anzusehen. Er wusste, dass er seinen Vater belog.
»Wem gehort die gelbe Jacht dort am Kai?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.
Sein Vater seufzte. »Die Mariposa«, sagte er, und jetzt sah Jose den dunklen Schriftzug am Heck. »Einem Toten.«
Jose schuttelte unwillig den Kopf. »Einem Toten?«
»Ja. Doktor Juan Casaflora. Einer von den Weltenbummlern hier. Vor ein paar Tagen ist er losgesegelt nach Isabela, aber er ist wohl nicht weit gekommen. Das Fieber hatte seinen Geist schon verwirrt, als er losfuhr. Eine hollandische Jacht hat die Mariposa auf ihrem Weg hierher aufgesammelt und ins Schlepptau genommen. Sie trieb ziellos auf dem Wasser. Der alte Juan war wohl schon tot, als sie ihn fanden. Die Hollander haben erzahlt, sie hatten ihn auf See bestattet.« Er seufzte. »Du wirst hier wenige finden, die um Juan Casaflora trauern. Er war … eigen. Angeblich war er Forscher. Man hort, er wollte herausfinden, was fur einen Einfluss der Flugplatz und die Menschen auf die Gewohnheiten der Tiere haben, die Leguane, die Vogel, die Schildkroten …«
»Sie verlassen die Insel«, sagte Jose. »Um das herauszufinden, braucht man kein Forscher zu sein.«
Sein Vater nickte. »Auf jeden Fall ist er jetzt tot. Ich nehme an, jemand wird das Schiff nach Isabela zurucksegeln. Dort gibt es mehr Leute, die eine Jacht gebrauchen konnen. Allerdings wei? ich nicht, wer ein Schiff kaufen will, auf dem jemand gestorben ist.« Er sah sich um. »Komm, es wird dammrig. Gehen wir zuruck.«
Jose schuttelte den Kopf. »Lass mich noch ein Weilchen hierbleiben und nachdenken«, bat er. »Ich finde schon zuruck.«
»Ja«, sagte sein Vater ernst, »du findest schon zuruck.«
Spater, viel spater, wurde Jose oft an diese Worte denken.
Es war fast dunkel, als der Amerikaner zum Hafen hinunterkam, einer von denen, die heute mit Joses Vater und seinen Brudern am Tisch gesessen hatten. Jose erkannte ihn an seinem Gang, er war jung, gro? und schlaksig, beinahe selbst noch ein Junge. Aber er war alt genug, um zu fliegen.
»Hey«, sagte der Amerikaner.
»Hey«, sagte Jose.
»Ben«, sagte der Amerikaner. »Ben Miller.«
»Jose«, sagte Jose. Es war gut, sich vorzustellen. Es machte ihr Gesprach zu einem Gesprach unter Mannern. Vielleicht konnte er mit Ben reden. Vielleicht wurde Ben ihn verstehen. »Ubrigens bin ich siebzehn«, sagte er aus dem Blauen heraus. »Nur, falls mein Vater herumerzahlt hat, ich ware junger. Er lugt gewohnlich, weil er Angst um mich hat.«
»Siebzehn?« Ben lachte. »Und ich bin die Konigin von England.«
»Im Ernst«, beteuerte Jose. »Ich werde achtzehn.«
»Alle Menschen werden einmal achtzehn«, sagte Ben und steckte sich eine Zigarette an. »Fragt sich nur, wie viele Jahre bis dahin vergehen. Zigarette?«
Jose nahm die Zigarette, ohne zu zogern. Falls das ein Test war, dachte er, war er leicht. Er hatte oft mit seinen alteren Brudern hinter dem Stall geraucht, heimlich, zu Hause. Eine Weile blinkte nur die Glut der Zigaretten ab und zu in der Dammerung auf wie winzige Signalfeuer.
»Haben Sie von der Isla Maldita gehort?«, fragte Jose schlie?lich. »Der verfluchten Insel?«
Ben nickte. »Die verfluchte Insel«, wiederholte er. »Wie ihr eure Fluche und eure Geruchte liebt, hier auf Galapagos, in eurem Paradies!«
»Wir brauchen sie«, antwortete Jose ernst. »Wir sind gefangen in unserem Paradies. Das Meer ist eine blaue Mauer, die uns einschlie?t. Und dieses Paradies ist eine grune Holle. Eine Holle, die alles verschlingt und uberwuchert, was einen Moment unbewacht bleibt. Jede verdammte Maispflanze. Wir arbeiten hart in unserem Paradies.«