Der Militarsegler glitt jetzt elegant und lautlos in die Bucht hinein, die Segel wurden eines nach dem anderen heruntergenommen und ein Motor sprang an. Das Schiff steuerte direkt auf die ankernde Mariposa zu. Im letzten Moment riss jemand auf dem gro?en Schiff das Steuer herum und es legte sich langs, Flanke an Flanke mit dem kleinen honiggelben Boot.
War Jose dort? War er wieder an Bord?
Jonathan sah, wie ein Mann von dem gro?en Schiff auf die Mariposa hinuberstieg. Er horte Stimmen, sah den Mann in der Kajute verschwinden und nach einer Weile wieder auftauchen, um zuruck auf den gro?en Segler zu klettern. Gleich darauf ankerte das Schiff wenige Meter von der Mariposa entfernt. Zwei Manner wateten an Land. Sie gingen uber den Strand hinauf, dorthin, wo die ersten, niedrigen Busche standen.
»Sie suchen etwas«, flusterte Jonathan. »Sie suchen jemanden. Jemanden, den sie auf der Mariposa nicht gefunden haben. Sie suchen Jose.«
Aber wo war Jose? Jonathan konnte ihn am Strand nirgends entdecken. Versteckte er sich zwischen den duftenden Balsambaumen, irgendwo im Schatten, unsichtbar geworden, eins mit der Dammerung? Wusste er, dass jemand ihm folgte? Jonathan schloss die Augen, um besser nachdenken zu konnen. Und er merkte, dass er Angst hatte. Angst, dass die Manner Jose fanden.
Er wartete lange mit geschlossenen Augen und klopfendem Herzen, und schlie?lich horte er die Stimmen der Manner ganz nah, horte ihre Schritte vor seinem Felsen uber den Strand gehen. Sie sprachen englisch, aber einer, der so weit gereist ist, versteht auch Englisch. Einer, in dessen Pass steht, dass er in London geboren wurde, sollte Englisch verstehen.
»… machen, dass wir hier wegkommen«, sagte der eine. »Das Schiff aus der Bucht schaffen. Es ist gleich dunkel. Du wei?t, was bei Einbruch der Dunkelheit passiert.«
»Wir hatten ihnen sagen sollen, dass wir hier sind … Wir sind zu ubersturzt aufgebrochen … Uber Funk kriege ich keinen rein. Wer konnte auch ahnen, dass er ausgerechnet nach Bartolome fahrt?«
»Wir. Wir hatten es ahnen konnen. Es ergibt Sinn.«
»Ja. Eine Menge ergibt jetzt Sinn. Lass uns irgendwo drau?en auf ihn warten, vor der Bucht. Er sitzt in der Falle hier. Spatestens morgen fruh haben wir die Karte in der Hand. Und dann hat es ein Ende mit der Reise der Mariposa. Mariposa! Was fur ein harmloser Name, verglichen mit …«
Die Stimmen entfernten sich, und als Jonathan wieder wagte, seinen Kopf hinter dem Felsen hervorzustrecken, wateten die Manner bereits ins Wasser zuruck. Sie trugen die Uniformen der US-Marine. Er hatte noch nie jemanden so rasch waten sehen.
Etwas wurde auf Bartolome geschehen, wenn die Sonne unterging, etwas, das man besser nicht miterlebte. Kurz darauf legte das Schiff der Amerikaner ab, ohne Segel zu setzen. Als das Drohnen des Motors die Bucht verlie?, wurde es sehr, sehr still. Die schwarze Nadel des Pinnacle Rock ragte in die Stille wie eine stumme Warnung.
Jonathan stand auf, den Pinguin noch immer auf dem Arm. Mit einem Mal verstand er, warum die Stille so still war. Die Pinguine waren nicht mehr da. Sie mussten allesamt ins Wasser getaucht und geflohen sein. Wovor geflohen?
Es war etwas, das schon haufiger passiert war, immer zur gleichen Zeit, etwas, an das sie sich hatten gewohnen konnen.
Jonathan lie? seinen Blick uber die Insel schweifen, suchend. Und er entdeckte eine kleine Gestalt, die uber den Strand auf ihn zukam. Jose. Er winkte, aber er sah nicht aus, als hatte er es eilig. Er hatte das Gesprach der Amerikaner nicht gehort.
Denk!, befahl Jonathan sich selbst. Denk, denk, denk! Rascher!
Er sah den verletzten Pinguin an, dachte an den Stein und plotzlich sah er noch etwas. Mehr Steine. Uberall verstreut lagen Stucke von Felsen, harte, kantige Stucke, die das Wasser nicht glatt geschliffen hatte. Diese Felsbrocken waren neu. Sie wirkten wie … abgesprengt.
In seinem Kopf tauchten Worte auf: Baltra. Die Amerikaner. Die Militarbasis.
Dann formte sich in der Stille ein hoher Ton, weit, weit fort – mehr die Ahnung eines Tons. Er schmerzte in den Ohren und schwoll langsam an. Jose war jetzt ganz nah.
Er winkte noch einmal.
Und in diesem Moment begriff Jonathan etwas.
Er hielt den Pinguin ganz fest und rannte los. Nie war er schneller gerannt. Er flog uber die spitzen Steine, er spurte nicht, wie ihre Kanten seine blo?en Fu?e ritzten. Der Ton wurde lauter und lauter und lauter und LAUTER, eine Art seltsames Heulen in der Luft, naher und naher … Jonathan erreichte Jose mit einem letzten Satz, dort, wo der Felsen in Strand uberging. Er riss ihn mit sich zu Boden, und als sie nebeneinander im Sand lagen, druckte er Joses Kopf in den Sand und schutzte mit seinem Korper den Pinguin.
Hinter ihnen explodierte die Welt.
Lied der Landleguane
Ich wei? es ja, es ist nicht galant,
so aus dem Busch aufzutauchen.
Aber hatten Sie wohl etwas Proviant,
den Sie nicht mehr brauchen?
Ich wei?, Sie haben aus Buchern erfahren,
ich fra?e die Bluten der Baumkakteen.
Mag sein, doch ich frage mich seit Jahren:
Muss denn das in den Buchern stehn?
Ich nehme jede Art von Essen:
ein Butterbrot, falls es genehm ist?
Weil auf Baume zu klettern, um Bluten zu fressen,
auf Dauer doch unbequem ist.
Sie finden mich faul? Dann besteh ich drauf,
dass Sie mehr Flei? beweisen.
Klettern Sie doch einen Kaktus hinauf,
um zu Abend zu speisen!
Ich denke praktisch, zahlt das nicht?
Ich lege mein Gelege
zum Bebruten ins Sonnenlicht
und gehe meiner Wege.
Ihre Ahnen, das ist lange her,
haben die meinen gegessen!
Da ware es doch jetzt nur fair,
Sie gaben mir Ihr Essen …
El fin del paraiso
Das Ende des Paradieses
Es regnete Felssplitter. Irgendwo fiel etwas ins Wasser.
Schlie?lich richtete Jonathan sich wieder auf und zog Jose hoch.
Der Pinnacle Rock wies stumm in den Himmel: Er wies in die Richtung, aus der die Rakete gekommen war. An seiner Spitze fehlte ein winziges Stuck. Kurz hinter Jonathan und Jose lag ein gro?er Felsbrocken im Sand.
»Was …?«, fragte Jose.
»Raketen«, sagte Jonathan. »Die Amis. Sie schie?en von Baltra aus.«
Er sah die Verbluffung in Joses Augen. »Woher wei?t …«
»Ich wei? es nicht. Aber es ware eine gute Erklarung. Sie uben. Der Fels ist ein hervorragendes Ziel.«
Er streichelte den verletzten Pinguin. Er hatte Angst gehabt, er hatte ihn bei seinem Sturz gequetscht, aber dem Vogel schien nichts geschehen zu sein.
»Danke«, sagte Jose leise. »Ich glaube, wir sind quitt. Du hast mich gerettet.«
»Hm«, sagte Jonathan. »Sieht so aus.«
»Warum?«, fragte Jose. »Und warum bist du gerannt? Ich dachte, du wolltest sterben?«
Jonathan zuckte die Schultern und streichelte weiter den Pinguin. »Oskar«, sagte er. »Ich werde ihn Oskar nennen. Er sieht so aus.« Dann sah er auf und lachelte. Seine blauen Augen lachelten mit. »Vorerst … sterbe ich nicht. Vorerst halte ich andere davon ab, es zu tun. Jose, wir konnen ihn doch mitnehmen, oder? Oskar.«
»Wohin?«, fragte Jose.
»Das wollte ich dich auch fragen«, antwortete Jonathan ernst. »Wohin segeln wir?«
Keiner von ihnen hatte Lust, die Nacht auf Bartolome zu verbringen. Die Luft um sie schien zu zittern, als sie zuruck zur Mariposa wateten – zu zittern in Erwartung eines weiteren hohen Tons, einer weiteren Explosion.
Es war ganz dunkel, als Jose den Anker aus dem Schlick zog. Und dann segelten sie hinaus in eine weitere pazifische Nacht, eine Nacht voller Wolken, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie regnen sollten. Carmen hatte auf Jonathans Schulter Platz genommen, und auf seinem Scho? hielt er Oskar, den Pinguin, der ab und zu kleine besorgte Laute von sich gab.