»Habt ihr gesehen, wohin er gegangen ist?«, fragte Jonathan, erst auf Deutsch, dann auf Spanisch und schlie?lich auf Englisch. Die Leguane folgten ihm ein Stuck, die hungrigen Augen auf seine Hosentaschen gerichtet. Schweigend.

»Ich suche einen Freund!«, rief Jonathan verzweifelt. »Meinen einzigen Freund! Alle anderen Freunde, die ich hatte, hat der Krieg verschluckt!«

Er dachte erst uber seine Worte nach, als er sie horte. Einen Freund. War Jose ein Freund? Jose, der nichts mit ihm gemein hatte? Der Tiere schoss und uber den Pazifik segelte und alle Deutschen hasste? Er kannte ihn kaum. Aber es war die Wahrheit: Er war der Einzige, der ihm blieb. Den Einzigen durfte man nicht verlieren.

Die Baume um Jonathan wurden hoher, behangten sich mit dichten Flechten und schlossen sich zu einem Wald voll raschelnder gruner Schatten. Jonathan blieb stehen. Er hatte keine Chance, Jose zu finden.

Und genau da fand er ihn. Oder eigentlich fand Carmen ihn. Sie gab eine Serie aufgeregter Fieplaute von sich, kletterte an Jonathan hinab und wuselte davon, mitten hinein in ein dichtes Gebusch. Jonathan folgte ihr. Als er die Zweige teilte, rieselten Millionen wei?er Blutenblatter zu Boden. Sie rieselten auf das Gras einer felsigen Lichtung. Und dort lag Jose. Er lag auf der Seite, reglos, sein schwarzes Haar verklebt von Blut.

Jonathan schluckte. Dann sah er im bei?enden senkrechten Sonnenschein, dass sich Joses Brust hob und senkte. Er atmete. Carmens kleiner brauner Korper schlangelte sich durch das hohe Gras und schmiegte sich gleich darauf in Joses reglose Hand. Jonathan wollte ihr folgen – da trat jemand auf der anderen Seite der Lichtung aus dem Unterholz.

Es waren zwei Manner. Zwei Manner in Uniform. Er machte einen Schritt zuruck in den Schutz der wei? bluhenden Zweige. Die Amis von der Roosevelt.

Sein erster Gedanke war: die Schusse. Die Amis haben auf ihn geschossen. Aber wie viel Zeit war vergangen, seit er die Schusse gehort hatte? Sicher mehr als eine Stunde. Niemand brauchte eine Stunde, um jemanden zu finden, auf den er eben noch geschossen hatte. Es ergab keinen Sinn. Jonathan fuhlte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. War noch jemand in diesem Wald unterwegs, noch jemand mit einem Gewehr? Jemand, der ganz nah war? Der ihn vielleicht die ganze Zeit beobachtet hatte?

Er sah, wie die Amis sich uber Jose beugten und seine Taschen durchsuchten. Sie fanden darin nichts als Ersatzpatronen fur Joses Gewehr. Keine Karte. Jose musste sie an Bord der Mariposa gelassen haben, zusammen mit der Pistole.

Schlie?lich hob einer der Manner Jose hoch und legte ihn sich uber die Schulter wie einen Sack. Jonathan sah, wie Carmen sich an Joses Armel festkrallte. Tapfere kleine Reisratte, dachte er, aber was hast du vor?

Er dachte, die beiden wurden zuruck zur Kuste gehen, doch sie schlugen die entgegengesetzte Richtung ein. Jonathan folgte ihnen leise durchs Dickicht. Sein Kopf arbeitete unaufhorlich, wahrend er durch die grunen Schatten schlich. Was sollte er tun? Was konnte er tun? Es war schrecklich zu sehen, wie sie Jose mit sich fortschleppten. Ehe Jonathan daraufkam, was er tun konnte, sah er, wie Jose die Augen aufschlug. Zuerst bemerkte es nur Jonathan, doch dann bewegte sich Jose und die Manner blieben stehen.

»Sieh mal einer an, wer da zu sich kommt«, sagte der, der Jose trug. Er setzte ihn ab, lehnte ihn mit dem Rucken an einen Baumstamm und kniete sich neben ihn. Joses Blick war verschwommen, vernebelt, verwirrt.

»Wir haben dich vom Boden aufgesammelt«, sagte der andere Ami. »Was ist passiert?«

Jonathan sah aus seinem Versteck, wie Jose langsam den Kopf schuttelte. »Ich … ich wei? nicht«, sagte er in seinem gebrochenen Englisch.

»Du hast jedenfalls eins auf den Kopf gekriegt«, stellte der erste Mann fest. »Du bist von der Insel? Ich wusste nicht, dass es Einheimische gibt auf Santiago.«

Jose nickte schwach.

»Dein Gewehr«, sagte der zweite Mann, und zu Jonathans Erstaunen handigte er Jose tatsachlich sein Gewehr aus. »Lag neben dir. Warst auf der Jagd, was? Hast du dir selbst ein Loch in den Kopf geschossen?« Er lachte.

»Hor mal«, sagte der andere Mann, und jetzt war seine Stimme leiser und dringlicher. »Wir suchen jemanden. Jemanden, der mit einem Boot unterwegs ist. Wir haben ihn hier aus den Augen verloren, ganz in der Nahe, gestern Nacht. Hast du eine kleine Jacht gesehen, honigfarben, mit wei?en Segeln?«

»Ja«, sagte Jose. Seine Augen waren jetzt nicht mehr vernebelt und sein Kopf schien wieder zu funktionieren. »Druben in der Bucht, wo ich wohne. In der Buccaneer Cove. Sie hat heute Morgen da geankert.«

Die beiden pfiffen gleichzeitig durch die Zahne. »Und ist jemand an Land gegangen?«

»Gesehen hab ich keinen«, sagte Jose. »Sie hat weiter drau?en geankert. Ich bin fruh los, wollte was schie?en … Das ist das Letzte, was ich wei?. Irgendwie ist da eine Lucke … in meiner Erinnerung.«

»Gehirnerschutterung«, sagte der eine Mann und nickte. »Das nachste Mal pass besser auf dich auf. Der, den wir suchen – womoglich schleicht er hier im Wald herum. Vielleicht war er es, der dir eine ubergebraten hat. Obwohl ich nicht wusste, warum.«

»Wer … wer ist das, den Sie suchen?«, fragte Jose.

Die beiden sahen sich an. »Jemand, der eine Karte besitzt«, sagte der eine. »Eine wichtige Karte.«

»Wichtig wofur?«, fragte Jose.

Fur den, der einen alten Schatz finden will, dachte Jonathan.

»Wichtig fur … den Krieg«, sagte der Ami. »Verstehst du?«

»Nein«, sagte Jose.

»Das brauchst du auch nicht. Wir bringen dich zuruck nach druben, zur Buccaneer Cove, und da schlafst du dir schon deine Gehirnerschutterung aus dem Kopf. Wir finden unseren Mann schon. Diesmal warten wir an Bord seines Honigbootes.«

»Ich habe so das Gefuhl«, murmelte der andere, »dass das Schiff nicht mehr da sein wird, wenn wir die Bucht erreichen.«

Und damit, dachte Jonathan, hatte er recht. Es war nie da gewesen. Nicht in der Buccaneer Cove. Aber wenn sie Jose dorthin brachten, auf die andere Seite der Insel, wurden sie merken, dass er nicht dort wohnte. Dass alles gelogen war.

Jonathan sah sich blitzschnell um. Vor ihnen stieg der Berg steil an. Der Wald wich zur Linken an einigen Stellen zuruck und gab den Blick auf ein paar Felsen frei. Es sah nicht so aus, als ware es schwer, hinaufzuklettern. Vielleicht war das seine Chance.

»Kannst du jetzt selbst gehen?«, horte er einen der Amis fragen. Doch da sa? Jonathan schon nicht mehr in seinem Versteck. Er tauchte im Dickicht an den dreien vorbei wie ein Schwimmer unter Wasser, und die Galapagosfinken beaugten voller Verwunderung das seltsame Tier, das da unter ihnen entlanghuschte. Warum hatte dieses Tier es so eilig?

Als der gro?ere der beiden Manner Jose aufhalf, formten seine Lippen lautlos einen Fluch. Mierda! Was wurde geschehen, wenn sie auf der anderen Seite der Insel ankamen? Er wusste nicht einmal, ob es wirklich Siedler auf Santiago gab.

Was wurden die Amis mit ihm anstellen, wenn sie herausfanden, dass er gelogen hatte? Dass er es war, der das Honigboot gesegelt hatte, auf dem sich die Karte befand? Er begriff nicht, weshalb die Karte etwas mit dem Krieg zu tun hatte. Aber wenn sie das hatte, dann stimmte etwas mit diesen beiden Amerikanern nicht. Wenn sie ganz offiziell nach dieser Karte gesucht hatten, der Karte seines Vaters, dann hatten sie seinen Vater fragen konnen, damals schon, auf Baltra. Nein, diese beiden verfolgten ihr eigenes Ziel. Vielleicht waren sie uberhaupt keine Amerikaner. Vielleicht … Sein Kopf drohnte.

Wenn er sich nur nicht so elend fuhlen wurde! Jeder Schritt zuckte als Schmerzsignal durch sein Gehirn. Er wurde es nicht schaffen, ihnen davonzulaufen. Auf der Mariposa wartete Jonathan, und vielleicht wurde er fur immer warten, vergeblich.

Da zischte etwas durch die Luft, und zuerst hielt Jose es fur einen winzigen Vogel, doch dann hielt sich der, der voraus-ging, die Stirn und fluchte. Noch ein Nichtvogel kam geflogen. Steine. Jemand warf Steine. Jose duckte sich instinktiv, aber der dritte Stein traf nicht ihn, sondern wieder einen der Manner.