Er drehte den Kopf. Er befand sich nicht mehr im Luftschutzkeller. Er befand sich in einer fremden Wohnung. Stimmen schwirrten ziellos umher. Jemand weinte. Die Luft roch verbrannt. Jonathan kam auf die Beine und fand ein Fenster, dessen Verdunkelung bereits entfernt worden war, um den Morgen einzulassen. Er kannte die Stra?e, die er sah. Sie befand sich nicht weit von seiner eigenen Stra?e entfernt.

»Wir sind bei meiner Schwester«, sagte Frau Adam. »Richard hat geholfen, dich herzutragen. Obwohl es uberall noch gebrannt hat. Du hast dich ja nicht geruhrt, nicht wahr … Das Haus – unser Haus –, es steht nicht mehr. Es ist ausgebrannt. Wir hatten Gluck.«

Jonathan drehte sich um und sah, dass sie mit einer Hand ihre Stehlampe umklammerte. Sie hatte sie also mitgenommen. Die Stehlampe war alles, was vom Haus Nummer 19 geblieben war. Und dann erinnerte er sich wieder an seinen Kampf mit Richard, an die Tur des Luftschutzkellers, an das Beben des Bodens; an alles.

Vor allem an ein Lacheln in der Nacht, Mamas Lacheln.

»Halt deinen Baren gut fest«, horte er sie wieder zu Julia sagen. »Denn jetzt rennen wir.«

Er war mit drei Schritten bei der Tur, durchquerte einen fremden Flur, horte Frau Adam hinter sich rufen – rannte durch eine fremde Haustur in einen fremden, verbrannten Morgen hinaus und bog kurz darauf in seine eigene Stra?e ein. Doch es war nicht mehr seine Stra?e. Er blieb stehen. Die Hauser hatten sich in schwarze Gerippe verwandelt. Manche besa?en noch Mauern. Bei einem konnte man in die Zimmer hineinsehen, weil die Vorderwand fehlte. Schlie?lich stand er vor den schwelenden Resten des Hauses Nummer 19. Der Eingang zum Luftschutzkeller von Nummer 21 war halb von Steinbrocken zugeschuttet. Und mitten zwischen den Steinen lag etwas. Etwas Rotes. Ein rotes Band. Jonathan buckte sich und zog daran. Dann hielt er einen Teddybaren in den Handen, einen staubigen, dreckigen Teddybaren mit einer roten Schleife um den Hals. Da war noch etwas, etwas aus kariertem Stoff. Eine alte Schiebermutze.

Aber niemand mehr, der sie aufsetzen konnte. Und niemand, der den Baren an sich druckte.

Er hielt ihn fest und ging langsam hinuber zu Nummer 19. Stieg uber Mauerreste in die Ruine, die kein Haus mehr war. Der bei?ende Rauch, der noch immer von den verkohlten Balken aufstieg, lie? seine Augen brennen. Doch er weinte nicht.

Jemand sagte seinen Namen. Er drehte sich um. Mitten in der Ruine stand Richard, gro?, blond, noch immer in Uniform. Ru?verschmiert.

»Es ist gefahrlich, die Hauser zu betreten«, sagte er. »Alles, was hier noch steht, kann jederzeit einsturzen. Wir haben Anweisung, Frauen und Kinder davon abzuhalten, die Ruinen zu durchsuchen.« Richard trat einen Schritt auf ihn zu und nahm ihn am Arm, sanft diesmal, als musste er ihn festhalten. Ihn beschutzen. Er war Jonathan zu nah. Sein Atem war warm. »Es tut mir leid«, wisperte er. »Das mit deiner Mutter und deiner Schwester.«

Das war der Moment, in dem Jonathan verschwand.

Die Person, die eine kleine Schwester namens Julia und eine Mutter im Haus Nummer 19 gehabt hatte, machte sich ganz klein und verkroch sich, weit, weit fort vom Licht des Morgens und von Frau Adams Mitleid und Richards Atem. An einem Ort, wo niemand sie finden konnte, tief im Inneren einer Hulle.

Die Hulle hatte die Form einer Person mit einem Teddybaren und einer alten Mutze in der Hand. Aber wirklich nur die Form. Richard half dem, was er fur jene Person hielt, uber die halb eingesturzte Mauer, und als Jonathan stolperte, streiften Richards Lippen wie zufallig seine Wange. Aber fur einen Zufall verharrten sie etwas zu lange dort, pressten sich an ihn …

»Jonathan!«

Er offnete die Augen. Es waren nicht Richards Lippen, die sich an seine Wange pressten. Es war ein Pinguin. Jonathan lag zusammengerollt auf dem Kajutendach der Mariposa, und Oskar war ihm offenbar gefolgt, um in seiner Halskuhle zu schlafen. Uber ihnen stand Jose und schuttelte den Kopf. »Was tust du hier?«

»Ich … habe getraumt«, sagte Jonathan und setzte sich auf. »Manchmal gehe ich im Traum irgendwohin. Wie in der Nacht, als du mich aus dem Wasser gezogen hast. Da bin ich im Traum uber Bord geklettert.«

Jose nickte langsam. »Jetzt habe ich wenigstens eineAntwort auf meine tausend Fragen.«

»Wenn wir gerade dabei sind, kann ich die anderen auch beantworten«, sagte Jonathan und streichelte Oskar. »Sie sind tot.«

»Wie bitte?«, fragte Jose.

»Das wolltest du doch wissen. Wo meine Eltern sind. Es war ein Bombenangriff, nachts. Die Stadt hat gebrannt …«

»London«, sagte Jose.

»Ja«, sagte Jonathan. War es nicht egal, ob es London oder Hamburg gewesen war? Wo lag der Unterschied? »Sie haben es nicht mehr in den Keller hinuntergeschafft. Nur ich war dort unten. Sie waren drau?en. Meine Mutter und meine kleine Schwester. Julia.« Er griff in seine Tasche und legte eine alte Mutze und ein Stuck rotes Band vor Jose aufs Kajutendach. »Das ist alles, was von ihnen ubrig geblieben ist. Die Mutze … gehorte meinem Vater. Aber meine Mutter hatte sie in der Nacht auf. Und das rote Band gehorte Julias Teddybaren. Spater, auf unserer Reise, ist es abgegangen, deshalb habe ich es in der Tasche. Der Teddybar ist vermutlich noch bei Wa… bei Smith.«

»Bei wem?«

»Smith. Er hat mich rausgeholt. Aus Ha… aus London.«

»Ist er … ein Freund deiner Eltern?«

»Nein«, sagte Jonathan schroff. »Der Bruder meiner Mutter. Sie haben schon ein paar Jahre lang nicht miteinander geredet. Nur … fruher. Meine Mutter, wei?t du, sie hat immer von den Galapagosinseln gesprochen. Sie wollte so gern hierher auswandern. Es war nur ein Traum. Und dann ist sie gestorben und der Traum war zu Ende getraumt. Aber eines Tages stand ihr Bruder vor der Tur. Vor der Tur von Frau Adams Schwester, bei der ich wohnte. Und er sagte: Wir fahren. Einfach so, ganz plotzlich. Wir fahren zu den Galapagosinseln, M… Jonathan, genau so, wie deine Mutter es sich gewunscht hat. Niemand hat geglaubt, dass er es ernst meint. Es war zu verruckt. Aber hier bin ich: auf den Galapagosinseln.«

Jose nickte. »Hier bist du«, sagte er, »und ein Gluck, sonst hatte ich niemanden, der mit mir zur Isla Maldita fahrt, denn dazu ist nun wahrhaftig niemand verruckt genug. Aber hor mal, willst du wirklich mitfahren? Willst du nicht zuruck zu deinem Onkel?«

»Nein«, sagte Jonathan sehr bestimmt. »Das will ich nicht.«

Jose zuckte die Schultern und kletterte hinunter in die Kajute, um den dreibeinigen Gaskocher zu holen. Dann kochten sie Kaffee in einem Topf und offneten eine Dose, deren Aufschrift man nicht mehr lesen konnte. Carmen reckte neugierig ihre winzige braune Schnauze und Oskar fischte etwas Orangefarbenes aus der Dose und verschlang es gierig. Dann streckte er den Schnabel und angelte sich ein zweites orangefarbenes Etwas …

»Eine Dose mit Pinguinfutter?«, fragte Jonathan zweifelnd.

Jose roch an der Dose. »Krabbensuppe«, sagte er. »Du meine Gute, der alte Juan Casaflora hat nicht schlecht gelebt. Da ist noch eine Menge solcher Dosen. Allerdings hatte er sich die Krabben auch an den Stranden der Inseln fangen konnen.«

So fruhstuckten sie Kaffee und Krabbensuppe, und Jose sagte, nun brauchten sie nur noch eine Flasche Sekt, um auf den Beginn ihrer gemeinsamen Reise anzusto?en.

Dann sah er zwischen den Felsen hindurch aufs Meer hinaus und wurde plotzlich ernst.

»Das nachste Stuck unserer Reise ist das langste«, sagte er. »Vor der Insel Marchena gibt es kein Festland und bis dorthin sind es mehrere Tage. Das ist offener Ozean, es gibt keinen Windschutz durch die anderen Inseln, es gibt …« Er seufzte. »… nichts.«

»Wie lange werden wir nach Mar… zu dieser Insel brauchen?«

Jose zuckte die Schultern. »Wenn der Wind so bleibt wie jetzt – zwei Tage? Wenn er dreht … kann es eine Woche dauern. Langer.«

»Du warst noch nie dort.«

Jose schien zu uberlegen, ob er sagen sollte, was er als Nachstes sagte. »Ich war noch nie irgendwo. Ich war immer nur auf Isabela. Und dann habe ich mich mitnehmen lassen nach Baltra, vom alten Silvio. Mein Vater kennt ihn. Er hat ein bisschen zu viel Geld und eine schone Jacht. Die Albatros. Er hat mich schon fruher manchmal mitgenommen, ist mit mir vor der Kuste von Isabela herumgekreuzt und hat mir das Segeln beigebracht. Aber diese Tour … ist die langste, die ich bis jetzt allein gesegelt bin. Es … ist die erste.«